OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022 – 17 UF 186/22
Der Rückführung eines von einem Elternteil nach Deutschland entführten minderjährigen Kindes in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ) steht wegen der Kampfhandlungen in der Ukraine derzeit die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ entgegen. Eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein Kind i.S.d. Art. 13 Abs. 1 lit b) HKÜ besteht derzeit auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine.
In dem Fall hat eine Mutter trotz des gemeinsamen Sorgerechts das nicht einmal 2 Jahre alte Kind am 02.03.2022 ohne Zustimmung des Kindesvaters nach Kriegsbeginn in der Ukraine nach Deutschland verbracht. Im Juli 2022 beantragte der Kindesvater die Rückführung des Kindes in die Ukraine, da die Kindesmutter sein Mitsorgerecht verletzt habe. Das Amtsgericht hatte den Antrag des Kindesvaters abgewiesen, das OLG Stuttgart hatte über die Beschwerde des Kindesvaters zu entscheiden.
Das OLG Stuttgart bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts. Es sei nachgewiesen, dass eine Rückführung des Kindes in die Ukraine mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre (Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ). Zwar sei die Bestimmung des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ nach allgemeiner Ansicht restriktiv auszulegen. Jedoch sei in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass die Voraussetzungen der Härteklausel vorliegen, wenn das Kind in ein Kriegs- oder Bürgerkriegsgebiet zurückgeführt werden soll und dort eine konkrete Gefahr für das Kind besteht. Sollte zusätzlich zu fordern sein, dass die durch den Krieg bedingte Gefährdungslage „das ganze Land“ betreffen muss, so wäre vorliegend auch diese Voraussetzung erfüllt, schließlich handele es sich bei dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.02.2022 um ein Kriegsgebiet…
Weiter sei zu beachten, so das OLG Stuttgart, dass die Gefährdung höchstrangige Rechtsgüter des Kindes betrifft. Angesichts der Kriegshandlungen sei nicht nur mit einer Verängstigung des noch nicht 2 Jahre alten Kindes oder mit einer unzureichenden ärztlichen Versorgung zu rechnen, sondern mit einer konkreten Gefahr für das Leben des Kindes…Es entspricht gerade der Wertung des HKÜ, dass in einem derartigen Ausnahmefall die Rückgängigmachung einer Kindesentführung hinter höherrangigen Zielen, wie dem Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes, zurückstehen muss…